Aushandlungen, Konflikte und Professionalisierungsprozesse auf dem medizinischen Markt

Aushandlungen, Konflikte und Professionalisierungsprozesse auf dem medizinischen Markt

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
03.04.2023 - 05.04.2023
Von
Vina Zielonka, Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Universität Münster; Lukas Alex, Lehrstuhl für Neueste Geschichte, Universität Bayreuth

Der „medizinische Markt“ ist ein komplexes Gefüge, in dem unterschiedlichste Akteur:innen im Umgang mit Gesundheits- und Erkrankungsthematiken aufeinandertreffen. Sie erzeugen mit ihren jeweiligen Interessen, Anschauungen und Verortungen ein dynamisches, oft auch konfliktbeladenes Aushandlungsfeld um Wissensbestände und Einflusssphären. In diesem werden vielfältige Regulierungs-, Profilierungs- und Professionalisierungsprozesse sowie Kooperations- und Demarkationsbestrebungen sichtbar. Dabei folgt der medizinische Markt neben der ökonomischen auch weiteren Logiken, die sich ihrerseits in gesellschaftliche, soziale, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen einfügen.

Der hier beschriebenen Perspektive ging das diesjährige Stuttgarter Fortbildungsseminar mit unterschiedlichen Fragestellungen, Ansätzen und Methoden nach. Die von Pierre Pfütsch (Stuttgart), Markus Wahl (Erlangen) und Lukas Herde (Strasbourg) vorbereitete Tagung vereinte Beiträge zu unterschiedlichen Epochen, Regionen und Akteursgruppen. Als interdisziplinäre Veranstaltung für Nachwuchswissenschaftler:innen in der Medizingeschichte bot sie den Teilnehmenden ein Forum zum gemeinsamen Austausch und zur Diskussion eigener Forschungsprojekte und -ergebnisse.

Nach einer allgemeinen und durch zwei Fallstudien zum Rettungssanitätswesen und zur Alterssexualität angereicherten Einführung in die Perspektive des medizinischen Marktes durch das Organisationsteam eröffnete JAN HAUGNER (Luzern) die erste Sektion über Natur und Medizin. Haugner machte die positive Rezeption Paracelsus' durch Jean Bodin zum Ausgangspunkt eines intertextuellen Vergleichs zwischen Bodins „De Daemonomania Magorum“ und Paracelsus' „Astronomia magna“. In seinem Fokus standen mögliche Wissenstransfers aus Paracelsus' naturmagischer Schrift auf Bodins Beantwortung der Hexenfrage sowie ihre Konzeptionierungen von Medizin und Menschenbild. Dabei konnte Haugner zeigen, dass neben wenigen Gemeinsamkeiten Bodins traditionell galenisch-religiöses Medizinverständnis mitunter in scharfem Kontrast zu Paracelsus' naturzentriertem Medizin- und Menschenbild stand. Beide Texte wiesen auf konkurrierende Wissenssysteme hin und stünden damit exemplarisch für den Pluralismus der Medizinkonzepte im 16. Jahrhundert.

Die Forderung nach einer Rückkehr zur Natur stand im Zentrum der Ende des 19. Jahrhunderts in Europa entstehenden Bewegungen des Naturismus und der Lebensreform, denen sich JOHANNES BOSCH (Heidelberg) aus wissensgeschichtlicher Perspektive widmete. Anhand der naturistischen Ratgeberliteratur rekonstruierte er das Umwelteinflüsse und Ernährungsweisen betonende Körperkonzept dieser Bewegungen als „alternative“ Antwort auf das sich wandelnde Körperkonzept der professionalisierten Medizin. Mit der Implementierung der bakteriologischen Hygiene, so Bosch, seien Gesundheit und Körper zunehmend zum Interventionsobjekt ärztlicher Expert:innen geworden. Demgegenüber betonte das naturistische Körperkonzept die individuelle Handlungsfähigkeit und ermöglichte damit Selbstermächtigung für all jene, die die Reformbewegungen der bakteriologischen Hygiene nicht mitvollziehen wollten. Damit offenbare der Diskurs über Natur und Natürlichkeit spezifische soziale Funktionen sowie politische Gehalte, deren Subjektivierungsweisen Bosch in seiner Forschung weiter nachgeht.

In der zweiten Sektion zu alternativen Heilverfahren historisierte HENRIK ESSLER (Hamburg) die Verbreitung von elektrischen Hochfrequenz-Therapiegeräten, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Laienbehandlern – darunter viele Vertreter der Naturheilkunde – vermarktet und für eine Vielzahl medizinischer Indikationen eingesetzt wurden. Ihre große Popularität führte Eßler auf ein Bedingungsgefüge aus Fortschrittsoptimismus und Technikbegeisterung, Medizinkritik und Zuwendung zur Naturheilkunde sowie Streben nach Wellness und Selbstoptimierung zurück. Den Therapiegeräten käme dabei eine ambivalente Rolle zu: Einerseits versprachen sie als selbstständig ausführbare Anwendungen ohne ärztliche Verschreibungspflicht eine Selbstermächtigung gegenüber der professionalisierten Medizin, andererseits repräsentierten sie als technische Artefakte das kritisch beäugte Bild einer mechanistischen Medizin. Eßler verdeutlichte, dass die an ihrer Entwicklung und Vermarktung beteiligten Akteur:innen von der Ärzteschaft als Konkurrenz wahrgenommen und auf verschiedenen Ebenen bekämpft wurden.

VINA ZIELONKA (Münster) untersuchte die Bedeutung von Wissenschaftlichkeit als Legitimations- und Demarkationskriterium für die akademische Medizin anhand der Kontroverse um die homöopathischen Arzneimittelprüfungen des Bonner Ordinarius Paul Martini. Diese dienten "Schul-" und Alternativmedizinern als Ausgangspunkt einer (erneuten) Debatte darüber, ob und inwieweit die Homöopathie als eine legitime Heilmethode anerkannt werden könne und solle. Zielonka verdeutlichte, dass das Zusammenwirken verschiedener Entwicklungen – der rapide anwachsende, heterogene Arzneimittelmarkt der Weimarer Republik, das Krisenempfinden in der Ärzteschaft und die Neue Deutsche Heilkunde – der Kontroverse Brisanz und Relevanz verliehen. Anschließend skizzierte sie deren Diskussionsebenen und Argumentationsstränge, um die Vielschichtigkeit konzeptioneller, methodischer und praktischer Anforderungen an den klinischen Beweis einer Heilmethode und ihre Relevanz für die Frage wissenschaftlicher Legitimität zu veranschaulichen.

Im Zentrum der dritten Sektion standen Fragen der Professionalisierung im Spannungsfeld von Markt und Medizin. JANA SCHREIBER (Marburg) befasste sich mit der Frankfurter Barbierzunft im 17. Jahrhundert, deren Zunftordnung zum Aushandlungsfeld professioneller Normierung wurde. Angesichts einer wachsenden Konkurrenz durch Stadtärzte als oberste Aufsichtsinstanz des Medizinalwesens, Vertreter anderer Handwerke und nichtzünftige Heilkundige sahen sich, so Schreiber, die Barbiere mit wachsendem ökonomischem Druck und der Schwächung ihrer Autonomie konfrontiert. Die neu ausgehandelte Zunftordnung repräsentierte demzufolge eine strengere Normierung, die Kompetenzbereiche und Qualitätsstandards abgrenzen und absichern sollte und so den Barbieren zur Festigung ihrer Position in der sozialen Ordnung wie auf dem ökonomischen Markt diente. Schreiber zeigte zugleich einen im Zuge des Aushandlungsprozesses beobachtbaren Wandel des für die Zunft konstitutiven Begriffs der Ehre auf.

Ebenfalls die Frühe Neuzeit in den Blick nehmend, beschäftigte sich LISA BRUNNER (Graz) mit der Sammlertätigkeit von Apotheker:innen, die in der historischen Sammlungsforschung bisher nur marginal betrachtet wurden. An Basilius Besler (Nürnberg) und Johann Heinrich Linck d. Ä. (Leipzig) zeigte Brunner exemplarisch die Potentiale einer Untersuchung der materiellen Kultur dieser Sammlungen, mit denen die Apotheker:innen versuchten, die Vielfalt des Universums abzubilden. Dabei ging sie der Frage nach, inwiefern die Sammlungen als Lehr- und Lernorte und Orte der Wissensproduktion auf Beruf, Ausbildung und Forschung von Apotheker:innen wirkten und mit botanischen Gärten oder Bibliotheken korrespondierten. In ihrer systematischen Kartierung von Sammlungen deutschsprachiger Apotheker:innen verfolgt Brunner nicht nur die dahinterstehenden internationalen Netzwerke, sondern auch dezidiert die Geschichte von Apotheker:innen.

Welche Bedeutung Körper als Wissensobjekte und Waren für die Anatomie hatten, stellte TIM GOLDMANN (Erlangen) am Beispiel der Erlanger Anatomischen Sammlung vor. Goldmann schilderte ihren Ausbau von der Begründung 1743 über den Leichenmangel im frühen 20. Jahrhundert bis zu Aufrufen zur freiwilligen Leichenspende 1931. Neben ihrer Nutzung für Lehrsektionen wurden zahlreiche Leichname vor allem zur Herstellung von Dauerpräparaten für die anatomische Sammlung verwendet, die 1804 als Museum institutionalisiert wurde. Anhand von Berichten von Angehörigen und Anatomen sowie Inventarlisten entwickelte Goldmann seine These, dass die Stigmatisierung der Körper zu Lebzeiten ein wesentlicher Faktor im Erwerbungsnetzwerk wurde und den ökonomischen und epistemischen Wert des Leichnams auf dem medizinischen Markt mitbestimmte. Bereits in den ministeriellen Ablieferungsregeln seien zwei Bevölkerungsgruppen besonders in den Blick geraten: Personen mit körperlichen Stigmata und sozial stigmatisierte Personen wie Verbrecher oder uneheliche Kinder.

Die vierte Sektion zu Wissensgenerierung und Verwissenschaftlichung eröffnete HENRIK JOCHUM (Zürich), der Kooperations- und Aushandlungsprozessen zwischen Geflügelwirtschaft und Veterinärmedizin in der Schweiz während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachging. Dazu stellte er anhand von frühen Lehrdokumenten von Geflügelzüchtern und Agronomen deren Gesundheits- und Krankheitskonzeptionen sowie darin popularisiertes Praxiswissen zur Gesunderhaltung von einzelnen Hühnern und Geflügelpopulationen vor. An veterinärmedizinischen Lehrbüchern und Artikeln des „Schweizerischen Archivs für Tierheilkunde“ wies Jochum die weitgehende Übernahme dieser Krankheitskonzepte und Wissensbestände durch die Veterinärmedizin nach. Dabei verwies er auf die strategische Demarkation gewisser Handlungsfelder, in denen Vertreter der Veterinärmedizin Handlungs- und Deutungshoheit besitzen sollten, beispielsweise bei Impfungen.

LUKAS ALEX (Bayreuth) verband die Institutionalisierungen der Rassenhygiene im Nationalsozialismus und der Humangenetik in Westdeutschland exemplarisch an der Biographie des Fachvertreters Wolfgang Lehmann. Dessen exzellente Karrieremöglichkeiten und die an der Medizinischen Fakultät in Straßburg auftretenden Demarkationsschwierigkeiten im Fächerspektrum deutete Alex als Ausdruck einer frühen, staatsgetriebenen Institutionalisierung der noch jungen Rassenhygiene. An Lehmanns Nachkriegskarriere in Kiel konnte er vergleichbare Verortungs- und Legitimationsschwierigkeiten zeigen. Die Etablierung eines planmäßigen Lehrstuhls für Humangenetik sei allein mit wissenschaftspolitischem Rückenwind durch die Empfehlung des Wissenschaftsrates 1960 durchsetzbar gewesen. Mit seiner übergreifenden Perspektive auf die Institutionalisierung einer Querschnittsdisziplin zielte Alex darauf, vor dem Hintergrund verschiedener politischer Systeme deren Gemeinsamkeiten zu betonen.

Das Seminar verdeutlichte die heuristischen Potentiale des „medizinischen Marktes“ als eine Perspektive auf Gesundheits- und Krankheitszusammenhänge zwischen Kooperation und Konkurrenz. Für eine Vielzahl von Berufs- und Akteursgruppen konnten ökonomische und statusorientierte Interessen, aber auch Motive der Qualitätssicherung nachgewiesen werden, die zum einen auf die Regelung offener Fragen und Kompetenzstreitigkeiten und zum anderen auf die Institutionalisierung von Netzwerken und Interessengruppen zielten. Strategisch akkumulierten die Akteur:innen verschiedene Ressourcen wie Wissen, Traditionen, persönliche Verbindungen und Material. Auf dieser Basis legitimierten sie ihre Position auf dem medizinischen Markt, die Abgrenzung gegenüber Konkurrent:innen und die Steuerung des eigenen Nachwuchses. Gleichzeitig verdeutlichten viele Beispiele, wie ökonomische Logiken mit anderen Logiken zusammenwirkten oder aber konkurrierten und im Zeitverlauf einander ablösten oder überlagerten. Bedenkenswert ist, dass in der Fokussierung auf den medizinischen Markt allzu häufig (Alltags-)Praktiken und insbesondere marginalisierte Gruppen ohne Deutungshoheit und Machtposition aus dem Blick geraten. Aus diesem Grund wird sich das nächste (41.) Stuttgarter Fortbildungsseminar im April 2024 mit marginalisierten Gruppen befassen.

Konferenzübersicht:

Auftakt

Markus Wahl (Erlangen) / Pierre Pfütsch (Stuttgart) / Lukas Herde (Strasbourg): Aushandlungen, Konflikte und Professionalisierungsprozesse auf dem medizinischen Markt: Ein kurzer Problemaufriss

Sektion 1 – Natur und Medizin

Moderation: Pierre Pfütsch (Stuttgart)

Jan Haugner (Luzern): Medizinische Konzepte zwischen Naturmagie und Hexendiskurs: Zur Intertextualität der Werke von Paracelsus und Jean Bodin

Johannes Bosch (Heidelberg): Varianten einer „Rückkehr zur Natur“ – der Naturismus in europäischer Perspektive (1890–1940)

Sektion 2 – Alternative Heilverfahren zwischen Verwerfungen und Legitimationsbestrebung

Moderation: Lukas Herde (Strasbourg)

Henrik Eßler (Hamburg): Zwischen „Kurpfuscherunfug“ und Heilsversprechen: Elektrische Behandlungsgeräte auf dem medizinischen Markt

Vina Zielonka (Münster): „Nur die praktische Prüfung kann Tatsachen erbringen…“: Paul Martini und die Homöopathie-Kontroverse 1932–1960

Sektion 3 – Professionalisierung im Spannungsfeld von Markt und Medizin

Moderation: Markus Wahl (Erlangen)

Jana Schreiber (Marburg): Konkurrenz vs. Kooperation – Die Normierung der Frankfurter Barbierzunft im 17. Jahrhundert

Lisa Brunner (Graz): ApothekerInnen als SammlerInnen in der Frühen Neuzeit

Tim Goldmann (Erlangen): Körper als Wissensobjekte und Waren. Anatomie, Leiche und Gesellschaft im 18. – 20. Jahrhundert

Sektion 4 – Wissensgenerierung und Verwissenschaftlichung

Moderation: Pierre Pfütsch (Stuttgart)

Henrik Jochum (Zürich): Die veterinäre Schulmedizin lernt dazu. Geflügelwirtschaftliche Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit in der schweizerischen Tiermedizin während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Lukas Alex (Bayreuth): Who cares about human gene(tic)s? Neue Perspektiven auf die Institutionalisierung der Humangenetik